Da sich am 5. Mai dieses Jahres der Geburtstag von Karl Marx zum 190. Mal jährt, sei an dieser Stelle eine kleine, den Trierer Philosophen betreffende, Lesefrucht aus Golo Manns »Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts« zum Besten gegeben:
Heine spricht einmal von seinen deutschen Landsleuten in Paris, »darunter der entschiedenste und geistreichste, Dr. Marx«. Der war entschieden und hat entschieden. Er war so geistreich wie Heine und, obgleich kein Dichter, doch ein Schriftsteller von hohem Rang. Aber er zwang seinen Geist auf eine einzige Bahn. Er nahm Partei. Er schuf eine Partei. Er wollte die Weltgeschichte mit seinem Geist bezwingen, sie auf die Bahn zwingen, die sein eigener Geist nahm. Gewirkt hat Marx und wirkt noch heute, aber nicht das, was er erwartete, errechnete, ist aus seinem Werk herausgekommen. […]
Ein Russe, der ihn auf einer Sozialistenversammlung in Brüssel traf, schildert ihn: »Eine dichte, schwarze Mähne auf dem Kopf, die Hände mit Haaren bedeckt, den Rock schief zusammengeknöpft, hatte er dennoch das Aussehen eines Mannes, der das Recht und die Macht hat, Achtung zu fordern … Seine Bewegungen waren eckig, aber kühn und selbstbewußt. Seine Manieren liefen geradezu allen gesellschaftlichen Umgangsformen zuwider. Aber sie waren stolz, mit einem Anflug von Verachtung, und seine scharfe Stimme, die wie Metall klang, stimmte merkwürdig überein mit den radikalen Urteilen über Menschen und Dinge, die er fällte. Er sprach nicht anders als in imperativen, keinen Widerstand duldenden Worten, die übrigens noch durch einen mich fast schmerzlich berührenden Ton, welcher alles, was er sprach, durchdrang, verschärft wurden.« Ähnlich sah ihn ein paar Jahre später ein deutscher Student, dem seinerseits gute Augen, heller Verstand und kräftige Gesinnung eigen waren, Carl Schurz: »Was Marx sagte, war in der Tat gehaltreich, logisch und klar. Aber niemals habe ich einen Menschen gesehen von so verletzender, unerträglicher Arroganz des Auftretens. Keiner Meinung, die von der seinigen wesentlich abwich, gewährte er die Ehre einer einigermaßen respektvollen Erwägung. Jeden, der ihm widersprach, behandelte er mit kaum verhüllter Verachtung. Jedes ihm mißliebige Argument beantwortete er entweder mit beißendem Spott über die bemitleidenswerte Unwissenheit oder mit ehrenrühriger Verdächtigung der Motive dessen, der es vorgebracht. Ich erinnere mich noch wohl des schneidend höhnischen, ich möchte sagen, des ausspuckenden Tones, mit welchem er das Wort ›Bourgeois‹ aussprach; und als ›Bourgeois‹, das heißt, als ein unverkennbares Beispiel einer tiefen geistlichen und sittlichen Versumpfung, denunzierte er jeden, der seinen Meinungen zu widersprechen wagte.« Es ist kein Zweifel, daß er den Leuten so erschien, die Zeugen sind gar zu zahlreich, gar zu übereinstimmend; und ist wohl kein Zweifel, daß er so war. Er war gesegnet und geschlagen mit einem ungeheuren Verstand, der ihn vereinsamte und ihn hochfahrend machte. Liebe hatte er wohl, für seine Frau, seine Kinder, auch Mitleid; es empörte ihn das Elend, das mit der Industrie hereingebrochen war. Sein Charakter war unbeugsam in der Not, vollständig die Treue zu der titanischen Arbeit, die er sich selber auferlegt hatte. Das sind preisenswerte Tugenden. Sie wurden überwuchert von einem furchtbaren Willen zur Macht; von dem Willen recht zu behalten und allein recht zu behalten. Die Gegner, die Kritiker, die Andersdenkenden wollte er vernichten, mit dem Schwert oder, solange das noch nicht anging, mit der Feder, die in Gift getaucht war. Ein solcher kann die Welt nicht besser machen.“1
Solchen Menschen, die ihren – mitunter auch sehr kümmerlichen – Geist auf eine einzige Bahn zwingen, begegnet man auch im 21. Jahrhundert noch zuhauf. Man muss kein Marxist sein, um Andersdenkende zu denunzieren und vernichten zu wollen sowie ihre Motive in ehrenrühriger Weise infrage zu stellen. Menschen mit einem furchtbaren Willen zur Macht sowie dem Willen, recht zu behalten und allein recht zu behalten, finden sich auch heute in der Politik, an Stammtischen, in Medienredaktionen sowie in Kleingartenvereinen. Sie alle eint ein Hang zur Borniertheit. Bei den wenigsten jedoch ist diese Eigenschaft gepaart mit einem hellen Verstand wie zweifellos bei Marx.
Meist sind es wohl eher Bequemlichkeit, Eitelkeit, Selbstsucht, Ruhmsucht und – ja, geistige Trägheit, die zu solchem Schwarz-Weiß-Denken führen, zur Unfähigkeit, von einmal bezogenen Positionen auch nur einen Millimeter abzurücken. Man konstruiert sich ein paar Feindbilder und kann fortan in der geistigen Hängematte baumeln. Gefährlich wird es, wenn solch rechthaberischer Kleingeist Einfluss gewinnt auf die Öffentlichkeit, auf Meinungsbildung und auf Politik. Wahrlich, mit einer derartigen Einstellung kann man die Welt schwerlich besser machen. Aber das ist wohl auch nicht unbedingt das Streben solch intransigenter Menschen.
Man sieht, auch in dieser eher menschlichen Hinsicht ist Marx aktueller denn je.
- Mann, Golo: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main, 1996, S.176f. – Zuerst erschienen im Jahr 1958.